Mit Kindern über Krieg sprechen
Kriegsbilder treffen auf Kinderaugen
Kinder brauchen Nähe, Schutz und Sicherheit. Doch die Bilder aus den gegenwärtigen Konfliktherden dieser Welt treffen auch auf die Augen von Kindern und Jugendlichen. Im Fernsehen, vor dem PC zu Hause, auf dem Smartphone flackern Bilder der Zerstörung. Für viele Kinder wirken die Berichte über den Krieg manchmal erschreckend; das hat eine Studie des Internationalen Zentralinstitutes für das Jugend- und Bildungsfernsehen gezeigt. Manche befürchteten, selbst vom Krieg betroffen zu sein oder sie versetzten sich in die Lage der leidenden Kinder. Untersuchungen zeigen aber auch, dass Kinder sich über die Ereignisse informieren wollen. Sabine Müller-Langsdorf, die Friedenspfarrerin der EKHN, und Wolfgang Buff, der ehemalige Beauftragte für Friedensbildung im Zentrum Ökumene der EKHN, haben in einem Interview über ihre Erfahrungen berichtet, wie sich mit Kindern und Jugendlichen über die Kriegsschauplätze dieser Welt sprechen lässt. Ganz zentral kristallisiert sich die interessierte Haltung heraus: Kind - was bewegt dich und was brauchst du jetzt von mir?
Bilder und Berichte über gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine beherrschen die Medien. Wie gehen Sie als Erwachsene mit diesen Informationen um?
Sabine Müller-Langsdorf: Die Bilder sind da und die Geschehnisse sind da. Und es gehört dazu, sich über politische Ereignisse zu informieren, mich um die Realität zu kümmern, in der ich lebe. Bei mir gibt es zwei verschiedene Reaktionen: Den Effekt, dass die Informationen mich wachrütteln, mich empören und zur Aktivität treiben und es gibt auch den Effekt zu sagen: Da mache ich zu. Ich glaube, dass wir Menschen diese Bilder aber auch brauchen, um ins Handeln zu kommen. Die Bilder und die Berichterstattung kann dazu führen, dass ich mich im Herzen berühren lasse. Als Pfarrerin drücke ich das ganz unterschiedlich aus: Manchmal sitze ich vor dem Fernseher und bete oder komme ins Fürbitten für andere. Und das kann ich auch im Gottesdienst öffentlich machen. In der Regel habe ich neben mir am Fernseher einen Stift und Block liegen und schreibe mir auf, wenn mich etwas interessiert. Das kann dann dazu führen, dass ich aktiv werde, was bis zu Stellungnahmen zu politischen Geschehnissen führen kann. Ich kann das mit meinen beruflichen Aufgaben gut vereinbaren. Das sind meine individuellen Formen.
Wolfgang Buff: Ich denke, dass die Zuschauer, Leser und Hörer durch die Wahl ihrer Medien und die Intensität mit der sie sich mit einem Thema beschäftigen, selbst steuern, wieviel sie sich antun. Die Frage ist eher, wie redlich die Bilder und Informationen sind.
Die Berichterstattung über Kriege, Verletzte und Tote kann auch Kinder erreichen. Wie können Eltern damit umgehen?
Sabine Müller-Langsdorf: Da heißt es ganz elementar: Dabei sein, Kinder nicht alleine schauen zu lassen. Wenn ich an Bilder denke, die die abgebildeten Personen demütigen, werden dabei moralische Kategorien missachtet - selbst wenn das Verhalten dieser Person nicht akzeptabel ist. Da sage ich schon: Ich wünsche nicht, dass ein Kind das sieht.
Wolfgang Buff: Sie können nicht verhindern, dass Kinder Bilder aus Kriegsgebieten sehen. Ich stimme Frau Müller-Langsdorf zu: Es kommt darauf an, dass jemand die Kinder dabei begleitet, auffängt und ihnen das Gesehen erklärt. Gut ist auch, sie auf kindgerecht aufbereitetes Material hinzuweisen. Was mir ganz wichtig ist: Ich komme mit den Kindern ins Gespräch und frage, was sie wahrgenommen haben. Denn Kinder können von derselben Nachrichtensendung etwas ganz anderes wahrnehmen als ich. Ein solcher Austausch kann ganz erstaunliche Ergebnisse haben. Einmal war ich sehr irritiert, als bei all den gezeigten Bildern die Kinder vor allem mit den leidenden Tieren wie den Militärpferden Mitgefühl hatten. Sie hatten nicht darüber nachgedacht haben, dass dort Menschen zu Schaden kamen. Hätte ich jetzt mit pädagogischem Eifer versucht, die Gewalt zwischen Menschen zu thematisieren, hätten wir aneinander vorbei geredet, ich hätte die Kinder gar nicht mit meinen Informationen erreicht. Es ist wichtig, die Gesprächsthemen durch die Kinder steuern zu lassen.
Dabei bitte nicht – um angeblich kindgerecht zu sein – mit groben Vereinfachungen arbeiten. Die Komplexität von Krieg lässt sich nicht bagatellisieren. Wie oft habe ich von Erwachsenen zu Kindern sagen hören: `Die waren böse und müssen dafür bestraft werden.´ Einfache Übertragungen zwischen Krieg und kindlichen Streitereien sind nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.
Möglicherweise erfährt ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben durch die Medien, dass Menschen grausam miteinander umgehen können. Wie lässt sich das auffangen?
Müller-Langsdorf: Ja, das ist wichtig. Besonders bei kleinen Kindern muss man damit rechnen, dass es sich um eine Erstbegegnung handelt. Was für mich selbstverständlich ist, kann für ein Kind das erste Mal sein - dass ihm aufgeht, dass Menschen in einem Land nicht einfach friedlich wie wir hier in der Sonne sitzen können, sondern dass plötzlich eine Bombe neben ihm einschlagen kann. Für Kinder kann das eine massive Erfahrung sein. Deshalb ist es wichtig, diese Bilder zu weiten und in einen Horizont zu stellen, der den Kindern in einfacher und klarer Weise vermittelt: Ja, das gibt es. Ja, das ist schlimm, ja dabei kann man Angst haben und sich fürchten. Dazu kann auch gehören, die kindliche Aussage „Toll, da knallt´s“ erst einmal anzunehmen. Wichtig ist, die Gefühle und Bilder einzuordnen und mit konkreten Informationen zu versehen.
Wolfgang Buff: Bei kleineren Kindern kann es auch Sinn machen, sie dazu anzuregen, ihre Gefühle in einem Bild ausdrücken. Es ist wichtig, dass man den Kindern die Möglichkeit gibt, ihre Eindrücke und Gefühle zu artikulieren oder durch Bilder zu zeigen.
Was können solch erschreckende Bilder bei jungen Leuten bewirken?
Sabine Müller-Langsdorf: Ich schätze die amerikanische Essayistin Susan Sonntag sehr, sie hat das Buch geschrieben `Das Leiden anderer betrachten´. Darin hat sie sich sehr mit der Kraft der Bilder in der Kriegsfotografie auseinander gesetzt. Sie erzählt darin aus ihrem eigenen Leben; als Jüdin hat sie mit 12 Jahren 1945 zum ersten Mal Bilder aus Bergen-Belsen gesehen. Diese Beschreibung hat sich bei mir sehr eingeprägt: Sie sagte, dass bei ihr als Kind beim Betrachten dieser Bilder etwas zerbrochen sei, unwiederbringlich. Da sei eine Unschuld und Unbedarftheit verloren gegangen. Aber gleichzeitig habe sich etwas in ihr zusammen geballt. Es sei eine Kraft entstanden, die Welt anders anzuschauen, jenseits des unschuldigen Kinderblickes. Die Welt ist nicht unschuldig und friedlich. Das heißt also: Die Bilder fördern etwas und sie zerstören etwas. Susan Sonntag warnt davor, die Eindrücke von solchen Bildern zu verallgemeinern, denn jeder Mensch erlebt etwas anderes beim Betrachten. Und der Mensch ist aber auch Subjekt seines Handelns. Das heißt: Lasst euch nicht von den Bildern vereinnahmen. Jeder Mensch muss seine eigene Kategorie finden, wie er damit umgeht.
Als ehemaliger Beauftragter für Friedensbildung waren Sie mit jungen Leuten im Gespräch. Was beschäftigt die Kinder und Jugendlichen?
Wolfgang Buff: Ich hatte oft mit Schülern der Oberstufe zu tun. Sie wollen wissen, was wirklich hinter einem Krieg steckt. Außerdem sind sie an Lösungsstrategien interessiert, wie sich ein Konflikt beenden lässt. Die Kleineren stellen ganz andere, individuelle Fragen, die sich kaum verallgemeinern lassen. Sie hängen davon ab, was das Kind wahrgenommen hat und was es berührt.
Als meine eigenen Kinder im Fernsehen beispielsweise den Flugzeugträger der US-Armee mit salutierenden Soldaten gesehen haben, die in den Krieg zogen, fragten sie: Warum tun diese Menschen sich das an? Andere Kinder hätten vermutlich etwas anderes `gesehen´und gefühlt, aber durch meine Arbeit wussten sie ja, dass man auch den Kriegsdienst verweigern kann. Ich habe ihnen gesagt, dass diese Soldatinnen und Sodaten sich für einen Beruf entschieden haben, weil sie beispielsweise keine andere Möglichkeit gesehen haben, als in der Armee eine Ausbildung zu machen. Und dann werden sie auch in Kampfeinsätze geschickt.
Für mich ist es entscheidend, nicht zu personalisieren. Der einzelne Soldat ist nicht gut oder böse. Soldaten tragen keine persönliche Auseinandersetzung aus wie beispielsweise Kinder auf dem Pausenhof. Sie werden für Interessen eingesetzt, die nicht unbedingt ihre eigenen sein müssen.
Wie können Eltern dazu beitragen, den Kindern dennoch eine zuversichtliche Perspektive mit auf den Weg zu geben?
Wolfgang Buff: Ich erlebe, dass die jungen Leute selbst auf verschiedene pfiffige Ideen kommen können, so beispielsweise die vielen Online-Petitionen, die von jungen Leuten entwickelt wurden. Sie sind viel rühriger und aktiver als man denkt. Vor einiger Zeit habe ich mit jungen Praktikanten zusammen gesessen. Und über meine Berufsbezeichnung kamen sie auf die Idee, mit eine Postkartenaktion zu starten und die Verantwortlichen ins Gebet zu nehmen.
Für mich ist ganz entscheidend, den Kindern und Jugendlichen Auswege und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Deshalb wünsche ich mir von den Redaktionen, dass sie verstärkt über Friedensinitiativen berichten sollen. Ein gutes Beispiel ist die israelisch-palästinensiche Bewegung „Combatants for Peace“, die aus ehemaligen israelischen Soldaten und palästinensischen Kämpfern besteht. Seit Jahren setzen sie sich gegen Gewalt ein und leisten gemeinsam Aufklärungs- und Versöhnungsarbeit. Diese Menschen haben auch innerlich die Waffen niedergelegt. Durch ihre persönliche Entwicklung können diese Menschen einen winzigen Hoffnungsschimmer anbieten.
Und während des Irak-Krieges habe ich Konfirmandengruppen erlebt, die mit Kerzen symbolisch derer gedacht haben, die während des Irak-Krieges gefallen sind. Manchmal macht es Sinn, Ritualisierungen zu finden, durch die das Aufgewühltsein altersangemessen verarbeitet werden kann. Denn dieses Aufgewühltsein muss ich ernst nehmen. Auch diese Ritualisierung ist ein aktiver Beitrag zur Bewältigung. Wir Älteren müssen zeigen: Die Welt bleibt nicht stehen und es geht auch anders.
Sabine Müller-Langsdorf: Ja, da stimme ich zu, es gibt viele gute Projektbeispiele. Auch die Aktion „Wanderfriedenskerze“ ist ein gutes Beispiel, wie wir konstruktiv mit schrecklichen Nachrichten umgehen können.
Was sich viele Kinder fragen: Wieso lässt der liebe Gott zu, dass Kinder im Krieg sterben?
Sabine Müller-Langsdorf: Gott macht keine Kriege, Menschen machen Kriege. Aber erst einmal drückt eine solche Frage Betroffenheit aus. Eltern sind dann gut beraten, dass sie einfach da sind, die Frage ernst nehmen und darin die Not des Kindes sehen. Ein Kind braucht Nähe, Schutz und Sicherheit. Zu dieser Frage gibt es verschiedenste Antworten. Eine am Menschsein orientierte Antwort ist: Wir sind endliche Wesen, leben in vergänglichen Körpern und sterben. Schon das ist für Kinder erst mal ungeheuerlich. Zugleich gibt es die Kategorie des Handelns: Wir besitzen die Fähigkeit, gut oder böse zu handeln, wie es die Bibel in der Erzählungüber Adam und Eva im Paradies im 1. Buch Mose im 2. Kapitel berichtet. Das heißt, wir können Frieden machen und Krieg. Theologisch ist die Antwort: Gott gibt uns die Freiheit, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Wenn wir an einen Gott der Freiheit glauben, ist Verantwortung für die Welt unsere Aufgabe.
Zudem ist der christlichen Religion das Kreuz als Zeichen des Sieges zu eigen, aber auch des gewaltsamen Leidens. Denn das Kreuz war ein Tötungsinstrument der römischen Herrschaft. Jesus hing am Kreuz, hat gelitten, aber auch den Tod überwunden. Dieses Symbol gibt uns die Hoffnung, dass die Gewalt nicht das letzte Wort hat und dass Gott an diesem Kreuz und darüber hinaus anwesend ist. Das ist etwas sehr Anspruchsvolles an der christlichen Religion. Denn die Vorstellung ist ganz ungewöhnlich und bringt Menschen zum Staunen: Gott am Kreuz – und zwar in einem Menschen, der stirbt. Da drin ist Gott: Im Leiden, im tiefsten Punkt. Vor allem Menschen anderer Religionen überrascht diese Vorstellung, denn es ist ein sehr seltsamer Machtbegriff – aber auch ein hoher – und ein tiefer. Ja, ein Gott im Leiden, ohne das Leiden zu verherrlichen.
Wolfgang Buff: Ja, die Antwort hängt von dem Gottesbild ab, das ich habe. Es ist ein Unterschied, ob ich mir Gott so vorstelle, dass er Marionettenfäden in der Hand hält und uns steuert oder ob ich von einem Gott der Freiheit ausgehe. Dabei ist Freiheit immer mit Verantwortung für das eigene Handeln verbunden. Dann eröffnen sich ganz andere Handlungsoptionen. Das ist etwas Mut machendes. Dazu zählen allerdings auch Irrwege und Scheitern in der eigenen Biografie. Denn sonst wären wir tatsächlich nur Marionetten. Die Vorstellung, dass Kriege durch Religionen oder obskure Mächte verursacht werden, halte ich für zu kurz gegriffen. Aus meiner Sicht haben gewaltsame Auseinandersetzungen mit Interessen zu tun, hinter denen Menschen stecken.
[Das Interview wurde im Jahr 2014 veröffentlicht. Aus aktuellem Anlass wurde es in Absprache mit Friedenspfarrerin Müller-Langsdorf angepasst. Die Empfehlungen sind nach wie vor gültig.]